DUNKELKAMMER

(trad. Tobias Burghard e Rudiger Fischer, Verlag Im Wald, 2002)
ISBN 3-929203-57-1
www.werlagimwald.de



"Für euch wäre das nur ein nichtssagendes Photo, eine der unzähligen Äußerungen des Be-liebigen; es kann keinesfalls den sichtbaren Gegenstand einer Wissenschaft abgeben; es kann keine Objektivität im positiven Sinn des Wortes begründen; es könnte höchstens eure intellek-tuelle Neugier wecken: Epoche, Kleidung, Bildwirksamkeit; aber es bedeutete für euch keine Verletzung."
R. Barthes, Die helle Kammer




für meinen Vater und meine Mutter









Vielleicht, da ja
im Bündel der Photos
gewöhnlich
der Schrei verstummt,
angehalten der Lauf
in der schwebenden Entwicklung
nach vorn und zurück.
Alles ist schon geschehen
und bleibt hier festgehalten
auf geringster Entfernung,
Wohl und Weh
ruhen nun unter Glas.
Die Lebenden sind tot:
erfaßt in der Abwesenheit
des Ereignisses, beim Verlassen
der Schiffe ohne Hafen,
aber mit den Zeiten ihrer Abfahrt
und Ankunft.
Die Toten sind lebendig.




Dunkelkammer


"Das historische Element in den Dingen ist nichts als der Ausdruck vergangenen Leidens."
T. W. Adorno, Minima moralia

"Mehr als die Liebe, mehr als der Haß, mehr als der Tod hat Bestand, was uns interessiert."
F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra


der Schatten des Gesichts,
das gespiegelte Bild,
der sich selber folgende Weg,
der fertige Abdruck
unter Glas...
der Entwurf eines Lebens,
der vorausgeht
und dahinter zurückbleibt

mitgeteilt und verlorengegangen,
die geheimnisvolle Chiffre
eines inneren
wie äußeren Seins:
von einem absoluten und
unterschiedslosen Ganzen
beherrschtes Ich...
die Spuren einer in sich selbst
abhandengekommenen Rede,
verloren, weggerutscht
am Abhang der
vom Blitz getroffenen Zeit



Der Gegenstand, der sich
der Linse darbot,
zusammengefaßt und entfernt.
Reglos, tot,
jedoch in der Schwebe
für unbestimmte Zeit,
abwegig gezeichnet,
wie er sich streckt.
Mißgriff.



(Das Charlestonkleid aus Atlasseide
mit Paillettenblumen
und Perlenfransen
auf nackten Beinen.
Tief ausgeschnittene Schuhe
mit Riemchen.
Eine Hand auf der Hüfte,
die andere streicht
die Frisur am Nacken.
Die schmalen Lippen
in Herzform.
Unten, am Rand, unterschrieben:
Wanda Dell'Amore.
2. 7. 38.)



Variétésoubrette
in kleinen Theatern
vierter Klasse,
weniger auf Kunst bedacht
als auf die vollen Formen
ihrer zwanzig Jahre.

Im übrigen zufrieden
mit ihrem Körper, der
gefiel. "Ich habe soviel
gegeben und geliebt,
doch auch viel bekommen."

Da hat sich jemand,
trotz aller teuer
bezahlten Kränkungen
und Täuschungen, wohlgefühlt
in seiner Haut und
verbraucht. Mit dem Bedauern,
daß alles, was dir begegnet,
ein Gramm von dir wegnimmt,
von jedem Tag etwas abfeilt
abgrabend, wie das Wasser,
die Leere ringsum.



(Schon
schwarz gekleidet, mit stolzem
Blick, beugt sie sich herab,
ergreift die Hand
des Kindes, das
neben ihr, im weißen
Kittel mit sonderbarem
Mantelkragen,
sich sträubend und
verdrossen guckend bittet,
sie solle es
loslassen.)

Sie ist zur Tochter
ihres Sohnes geworden,
an dessen Arm
sie nun hängt. Sie verdreht ihn.
Sie ist wieder klein,
knochig und mager,
dennoch streckt sie sich
über ihn, der die geliebte Frucht
ihres Leibes gewesen ist,
Sinn und Inhalt
eines einsamen,
bitteren Lebens.

Sie, die sich ganz
der Arbeit widmete,
seinen Bedürfnissen
natürlich nachkam,
wurde Herrin und
Blutegel: der Efeu,
der ihn umschlossen
und aufgezehrt hat.

Mit jeder Runzel
geschrumpft, vertrocknet
zu Pergament.



(Im Kleid aus Organza
mit durchbrochener Stickerei
sitzt sie in Pose
auf einem kleinen Sofa.
Einen Arm
hält sie locker, als wolle er
gleich sinken.
Sie stützt das Kinn
auf die Hand.
Unterm Pony,
starr in die Ferne schauend,
die schwarzen Augen.)

Früh gealtert
vor lauter Arbeit,
saß sie im Sessel
des dunklen Zimmers,
hielt den ganzen Tag
ihren Hut in der Hand
und sang vor sich hin,
ohne genau zu wissen, was sie sang,
immer denselben Refrain:
"Der junge Falke
hoch oben im Wind,
da stürzt er auf einmal
herab geschwind."

Gestirn, Blitz, Komet,
silberner Pfeil.
Auch
die Leuchtspur...
und alles erloschen.



(Brustbild
eines Paares:
er mit Filzhut
und bräunlichem Seidenschal,
doppelt gefaltet, eng um den Hals,
sie in gestreifter Bluse
mit hohem Kragen
bis unters Kinn.
Versehentlich vereint.
Sie schauen nicht
in die gleiche Richtung.
Man sieht, es ging
ein heftiger Wind.)

Sie wollte nicht,
aber mein Großvater,
im Einvernehmen mit ihrer Familie,
bereitete die Schriftstücke vor
und heiratete sie
am Abend vor Weihnachten
neunzehnhundertachtzehn.
Wenn auch widerstrebend,
tat sie immer,
was man von ihr verlangte.

Sie war, ein Leben lang,
was sie nicht sein wollte:
Magd und betrogene
Ehefrau. Sie ertrug,
daß ihr Mann
zwei Häuser hatte
und unterhielt
mit seiner Arbeit.

Nichts oder wenig
erhielt sie von dem, was
sie sich so sehr erträumte.
Selbst jener Anstand,
den sie sich erhoffte,
wurde ihr verwehrt.

Mit dem Finger
auf der Landkarte,
immer und überall
auf Schatzsuche.
Obwohl in jedem Fall
ein Stück fehlt am Traum
nach Unendlichkeit.



Die Papierstückchen,
hochgeschleudert
vom erloschenen Kegel,
gewinnen Konturen,
geben Tonfall und Ziele zurück,
rufen Beziehungen
untereinander hervor,
nehmen die Farbe
des Gedankens an,
verwandeln sich
in immer deutlichere Orte
und Zeiten, wo die Gestalten
wieder räumlich werden,
wo verborgene Tugenden
ihren Duft verströmen,
Stimmungen, Essenzen
einer köstlichen Stille,
wahrnehmbares Netz, Speicher
der Bilder und Würze.



(In einer Reihe
auf dem engen
Landesteg:
das Mädchen mit den Abzeichen
auf dem Pullover, seine Mutter
mit aufrechtem Oberkörper,
der Vater, der alle
überragt, auf
der schiefen Ebene
zum Meer hin, das sie blendet,
an der Schwelle des Abends.
Dahinter, am Heck,
erscheint auf dem Segel
das Wappen der Savoyer.)

Er, der Monarchist
in einem Sozialistenhaus,
war das schwarze Schaf
der Familie.
Seine Frau, eine Schneiderin,
trieb ihn an,
sie meinte, er erlange so
mehr Achtung.

Er gehörte den Sturmtruppen an,
war dann Faschist
der ersten Stunde.
Mit einer Gruppe von Freunden
sah man ihn, um die Langeweile
zu vertreiben, auf der Landkarte
Europa aufteilen.

Mit den anderen getötet
auf dem Deich am Fluß,
eines frühen Morgens.
Aufgefunden, im Korb
mit den Gänsefedern,
von den Schritten der Tochter,
die auf dem Gang
zum Keller spielte,
hoch und herunter,
bis zum Verhängnis.



(Stehend,
die Hand auf der Lehne
einer kleinen Liege
aus Holz.
Eine große Baskenmütze,
unter der ein Kranz
von Haaren hervortritt,
über schwerer Kleidung,
einem Faltenrock
und einer Redingote
mit Kragen
und samtenem Ärmelbund.
Im Hintergrund
ein Brokatvorhang,
von einer Kordel
aus Volant gehalten,
hinter ihrem Kopf.
Das Datum, geschrieben:
1. 4. 18.)

Das blieb für sie
die schönste Zeit
ihres Lebens,
als sie, noch ein Mädchen,
aus dem Dorf
im Gebirge

heruntergekommen war,
um in einem Bürgerhaus
in Florenz zu dienen.

Ihr gefielen die Gassen
zur Stunde des Ausgangs,
die bei Sonnenschein
geöffneten Schirme
und am Straßenrand
wartenden Kutschen.
Und sonntags,
festlich gekleidet,
machte auch sie
eine gute Figur.

Sie ist überzeugt,
daß man nur da
ihr wohlgesonnen war,
sie sagt, schon damals
habe sie Angst gehabt
und sich nichts mehr erwartet
von dem, was ihr bevorstand.



(Fast kahlköpfig,
ein rundes Gesicht,
gezeichnet von einem dichten,
dunklen Schnurrbart.
In einer Jacke
aus Barchent,
mit einem Streifen
schwarzen Samtes
auf dem Revers.
Der Vater meines Vaters.)

Dieser Mann, den ich nie
kennengelernt habe
und von dem mein Leben
abhängt. Es lag an ihm,
dachte ich, daß wir uns
mehr oder weniger knapp
verfehlten.

Von ihm wußte ich nur,
daß er, verwitwet,
wieder geheiratet hatte,
seinem Sohn zum Trotz,
und jahrelang
wegen einer Thrombose
bettlägerig war,
bevor er starb.

Für mich als Kind
wurde er
aus unerfindlichen
Gründen
zum anschaulichen Bild
eines letztlich nicht einmal
so befremdlichen Gedankens:
die Schuld an der ungeheuren
Unordnung der Welt.



(Die Baskenmütze,
die Jacke mit dem
viereckigen Kragen
und unterm Arm
ein kurzer weißer Kordon.
Auf einem Schiff
in Miniatur,
mit einem Bug aus Pappe,
bereit zum Auslaufen
aus seinem Hafen.)

Wenn er sich heute
plötzlich gehen läßt,
dann ist das, sagen sie,
weil er krank geworden ist:
der niedrige Blutdruck.
Oder schlimmer,

weil er sich in etwas
verbohrt hat.


Er weiß
von dem Eindruck,
tief innen, wenn er
daran denkt, daß das Leben
immer schon vergangen ist
und die Partie sich
nicht mehr spielen läßt.
Sie ist, ohne jede
andere Chance, verloren,
endgültig aus.


Aber die Ohnmacht
ist Frucht der
schmerzlichen Empfindung,
daß er getäuscht und
in allem um etwas
betrogen wurde.



Die ausgelöschte Gegenwart:
die Vorstellung von einem
unbelebten Ding,
dazu gebracht,
zu einem bestimmten Wesen
zu werden, einstweilen aber
ein mattes Gesicht,
ohne Leben. Offensichtliches
Anzeichen für den Riß
im würdevollen Gemälde,
für die unüberbrückbare Ferne,
den Sprung, den Übergang
in die skandierte Fiktion
der Gegenwart.



(Das Kind, an die Knie
seines Vaters gelehnt,
das gespannt
an dem Knopf dreht
und stumm darauf weist.
Die Mutter schaut zu, entzückt,
übers Radio gebeugt.
Im goldenen Kreis
des Wohnzimmers.)

Man kann sagen,
ich wurde geboren
und wuchs auf,
erzogen
im Schatten des Anstands.

Bereit zu danken
für das Wenige, aber Sichere,
zufrieden, aber nicht
zu sehr. Zugleich
zur Auflehnung neigend,
doch sie ablehnend,
beides völlig
verbindend,
Verweigerung und Sinn
für Achtung.

Oh der geliebte
Widerschein, vom schon
nicht mehr deutlichen Rand her,
strömt im Überfluß...
am meisten verschwimmt
der Gegenstand.




(Mit spitz zulaufendem Helm
und einem Umhang,
auf dem vorgetäuschten Pferd.
Vor dunklem Hintergrund,
einem Wald.
Eine Hand auf der Hüfte,
und die andere hält
den Säbel hoch
zwischen Kopf und Schulter.
Er lacht jemandem zu,
der vor ihm steht und ihn
vermutlich begleitet.
Auf dem weißen Karton
mit der Feder das Datum:
Mai 1908.)

In den Norden
Deutschlands gefahren,
um in einer Fabrik zu arbeiten.
Es gefiel ihm, trotz der
zehn Stunden und mehr
am Tag. Letztlich
doch nie so gut wie
zu Haus zu bleiben.
Er erweckte Sympathie
bei der Tochter des Chefs
und begriff sofort,
da könnte er unterkommen.

"Und die Mama... und
ich? Was wär
aus uns nur geworden?"
Meine verzweifelte Frage
an den Großvater, dem,
wer weiß aus welchem Grund,
diese Erinnerung
wieder hochkam.
"Nun ja... sie hatte
einen Kopf wie ein Pferd."




(Ich, mit sechs Jahren,
glaube ich. Abgelenkt,
aber nicht zu sehr, vom Spiel
mit den Steckbuchstaben
auf dem kleinen Tisch.
Trotz der unsicheren
Stellung des Stuhls
versunken ins Ausdenken
von Kreuzworten
auf dem Spielfeld.)

Für mich kam das Wort
von weither. Ich nahm es wahr
als etwas sozusagen schon immer
Gegebenes. Ein Aufputschmittel.
In einem irgendwie
umgekehrten Vorgang.

Ich gab ihm zum Vergleich
eine Wirklichkeit, die aber,
je mehr berührt und erfaßt,
umso flüchtiger
sich den fünf Sinnen entzog.

Also wurde das Wort
gegen einen Körper geschleudert,
der durch das Sagen
sich plötzlich wieder ergreifen ließ.




(In Pose, ohne
Kleider, sitzend
auf der Einfriedungsmauer,
hält er frech
einen Grashalm
zwischen den Lippen.
Das Kinn erhoben,
der Blick
auf etwas
oder jemanden
in der Nähe gerichtet.
Ein Knie
hält er mit der Hand.
Das Alter ist vermerkt:
dreiundzwanzig Jahre.)

Vor dem Tod bewahrte ihn
gerade noch die Verbannung.
Aber er wurde sonderbar
und wollte nicht hinaus.
Wie ein Kind.


Er ging im Haus umher,
um Gesten einzunehmen
und nicht in der Zeit
zu balancieren. Ständig
die Wege der Katze
verfolgend.





... ein Wirkliches,
wieder zusammengefügt, in
logische Ordnung gebracht,
dem unbewachten
Fließen des Lebens
entzogen, an dessen
Rand erwartet,
hinabgeglitten in den langen,
engen Flur,
in den Hals des Trichters,
der es in Stücken
aufgenommen hat
und durch Zauber
in seinem Sein wiederherstellt,
vollkommen,
für einen Augenblick
unversehrt wieder da.



(Auf der Strandpromenade
mitten im Sommer.
Prickelndes
Hemdblusenkleid,
weiße Handtasche.
Sie dreht sich um und spricht.
Ich schau sie an,
wie sie mich anschaut
und glücklich ist.)

Meine Mutter, geliebt,
und auf Entfernung gehalten,
um weiter geliebt zu werden.
Unerwähnt, ausgeschlossen
von jedem Plan,
als zu sehr wahrgenommen,
schrittweise verbraucht.
Von Zeit zu Zeit wiedergesehen
von meinem selbständigen,
fernen Leben aus.

In Verbindung gebracht
mit dem Brennen der Erwartung,
ohne Worte, die zwischen uns
hätten vermitteln müssen.
Das andere Ende
des Fadens, der mich zieht,
die Kraft eines Weges,
von dem man nicht abkommt.


(Ganz kleine Augen
im engen Raum
zwischen der Stola,
die Kehle und Kinn verdeckt,
und einem Hut,
dessen Krempe
ein Netzschleier ziert.
Das Foto zeigt sie
schelmisch
und forsch,
wie gestochen ist auch
die Unterschrift darunter
mit deutlichen,
eleganten Buchstaben.)

Es gab nichts,
von dem sie nicht sagte,
das könne sie.
Nie innehaltend,
nie die Hände verschränkt.
Ohne Pose. "Doch,
aber meine..."
Ihr Thema:
Haus und Herd.

Heute, den ganzen Tag
an einen Sessel
vor dem Fenster
gefesselt,
will sie,
daß die kleine Hündin,
an die Lehne gebunden,
ihre Gefangenschaft teilt.

Jetzt oder später, jedenfalls
in einem Andante,
das einstürzt und wegrutscht,
der Schwall einer Wasserfalls,
was auch immer es sei.
(Die Haare
über den Schultern,
kleine Augen,
eng beieinander,
und eine Hand,
die den Hals umfaßt.
In einem gepunkteten
Kleid. Kaum älter
als zwanzig.)

Von der sonderbaren Einladung
gezwungen, am Tisch mit dem Spiel
des Verbotenen Platz zu nehmen,
jedoch zerstreut
wegen ihres Spulengarns
im Zimmer nebenan,

mit rotem Gesicht, in Eile,
die Unterhose zu nehmen,
die mit den Kleidern
über dem Feuer hing.
Inzwischen Geflüster
und erstickte Schreie
jenseits der Tür.

Von der Eifersucht gepackt
und zerfressen, sie dann
bis zur Erschöpfung
hochmütig zerkratzend
vor lauter Rachsucht
im Leibe. Aber
zur Mutter, nein...
so war es abgemacht
zwischen uns, kein
einziges Wort.
Sie ließ mich, wenn sie
allein war, beim Bügeln
zwischen ihren Beinen
herumkriechen und wühlen
unter ihrem kurzen Rock.



(Mit der Schürze,
die ihr wie ein kleiner Vorhang
vom Hals herabhängt,
die Hand zum Grüßen ausgestreckt
und einen Fuß
mit zufriedener Miene
auf den Korb gestützt.
Die Szene im Profil,
auf diesem Rest
einer Postkarte.)

Im Saal des Kindergartens
nach dem Mittagessen
mit dem Kopf auf der Liegefläche
und angehalten, still
zu sein, einander höchstens
verstohlene Blicke zuwerfen
und heimlich lachen,
um nicht plötzlich erwischt
und in die Ecke
gestellt zu werden.

Leise huschten
weit weg und ohne Gehabe
die dicken Ordensschwestern,
sie kamen und gingen im Chor
durch Türen, die wir nicht
durchschreiten durften,
hellblaue Gänge entlang,
als entzögen sie energisch
in den schwarzen Gewändern
Stück für Stück den rosigen Leib.




Ist jene Vergangenheit
womöglich tot?
Oder verbirgt sie sich
außerhalb ihres Bereichs,
in einem gleichgültigen,
reglosen Ding...
Das in die Tasse
getauchte Kuchenstück,
dieser Geschmack,
plötzlich wiedergefunden,
festgehalten, zuckend,
still, dann wieder
hinabgesunken in das,
was manchmal
im Gedächtnis erwacht
beim Betrachten eines Bildes,
von dem zurückgeworfen
es zur Vorstellung wird,
kaum wahrgenommen
im Wirbel der Zeichen
des Dargestellten.


(Ein Unterhemd,
eng anliegend
über einer Hose,
die ich zum Spaß
herunterziehe,
in die Linse lachend.
Den Gürtel dann
wieder enggeschnallt
über den Kleidern.
Im Juni 1954,
fünf Jahre alt.)

Jeden Morgen
bei unserer Ankunft
der übliche Kampf
um die Fliesen
des Hofs. Die wir,
die angehenden Tyrannen,
nach unserem Gutdünken
zum Buntmalen
mit Ziegelstücken
den Anwärtern überließen,
die schon Schlange standen.

Und dann verwalteten
für jene drei Mädchen,
die, so war es ausgemacht
und gewiß nicht frei
von Schuldgefühlen ersehnt,
berührt werden durften,
jedes einzeln hastig
hinter dem Gebüsch
des Mäuerchens. Auch wenn
zwischen ihren Beinen
nur wenig Fleisch zu fühlen
und die Brust noch klein war.



(Die Zigarette
in der Hand,
der Arm eingewinkelt
vor der Brust, inmitten
anderer Leute,
hört er mir zu,
der ich mich fast
an ihn klammere.
Lächelnd, und doch
auch fern.
Die Jacke aus Samt
über einem abgenutzten,
kurzen Pullover.)

In seinen Reden,
nicht mehr über Gott,
sondern das Schicksal,
verstand ich sie...

in jenen Flecken
auf der Haut,
im beißenden Atem,
den schlaffen Kleidern
des Willfährigen,
der Freiheit und des Verstoßes
gegen die Regel.

Mit sechs Jahren
überfiel mich zum ersten Mal
die Vorstellung, daß alles
unaufhaltsam verfällt,
auf einen toten Punkt zuläuft.




(Ein helles Kittelchen,
gestreifte Kniestrümpfe
und Sandalen mit Löchern.
Mein Vater schaut aufmerksam
und besorgt auf einen grimmigen,
aber ausgestopften Hund.
Darunter steht
eine Zahl und daneben
der Anlaß:
der vierte Geburtstag.
Oktober achtundzwanzig.)

Ich, durch eine Umkehrung
zum Vater meines Vaters
geworden, vor diesem
sich mir verschließenden,
im Zustand der Vergangenheit
verharrenden Bild.
Verkehrtes
Verhältnis
der Größen,
in einer jedoch
gleichwertig
bleibenden Optik.

Bereit und froh,
ihn bei der Hand zu nehmen,
ihm von der Welt
und dem Leben zu erzählen
und ihn weit weg zu führen.



(Das Kleidchen
gebläht und eng
geschnürt, mit all
dem Reichtum
unter dem Mieder,
die Schultern
mit Perlen geschmückt.
Ich ziehe
mit müder Miene
am Arm
des kleinen Mädchens.)

Im Sommer nach dem Essen
auf der Terrasse eingesperrt
im Erdgeschoß.
Wenn ich nicht entwischte,
kam Marcellina
manchmal herauf.

Saftiger Biß,
Pfirsichfleisch, volle Frucht.
Ausgestreckt inmitten
der Geranientöpfe.

Oder vorsichtig im Dunkeln,
unten im Keller,
auf den Obstkisten
gefiel es ihr,
in den Händen zu halten,
was da hing.
Für mich nur das Vergnügen,
genommen zu werden.
Und der Gedanke, daß
es ungerecht und für mich
ein Nachteil war, daß sie
kein Dingsda hatte.




Der Höhepunkt, ja,
die Wurzel der Personen:
der gesamte Umfang,
eine Erweiterung des Gegenstandes
zum Sinnbild, zur Aufgabe
von Zähigkeit und Dauer.
Die Fülle eines Punktes,
der ohne Schranken
das unbegrenzte Gefühl
enthält, in dem
gewöhnlich
Aufschwung und Rückfall
der Handlung sich decken.



(Ich schaue
starr vor mich hin.
Ich trage einen Kittel
mit einem Gürtel
und Kniestrümpfe in
derselben dunklen Farbe.
Die Arme hängen
herab. Aber gar nicht
entspannt, vielmehr
verkrampft,
auf der Hut.)

Mich erfaßte das ziemlich
bestürzende Gefühl
des Mißgeschicks, der Befremdung,
als ich entdeckte,
daß man nie
den Platz findet,
der einem zusteht,
und es nicht schafft,
den Takt zu halten.

Und für mich blieb
die Tatsache in der Schwebe,
daß Leben ähnlich ist
wie das Entdecken
von etwas Verbotenem,
Verwehrtem,
daß alles heimlich
entsteht und wächst
und letzten Endes
in der Angst widerfährt.



(Ich trage
ein weites Unterhemd
über den andern Kleidern.
Sandalen aus Leder.
Mich mit der Hand
an der Reling haltend,
starre ich vom Deck
auf das Meer und ein Boot,
das vor mir vorbeifährt.
Ich bin sieben Jahre alt.)

Da ist es,
aufgezogen im Wind,
das Segel der Kindheit
am Horizont.
Ab und zu bäumt es sich
unsicher auf, flieht
weiter in die Ferne.

Mein Weg schien
vorgezeichnet,
unzweifelhaft,
doch irgendwie offen.
Träume, Vorhaben, Pläne,
alle, auch die sonderbarsten,
rasch davonschnellend
über die Fluten.

Schau ich nun zurück,
seh ich mich ein wenig
ertränkt von der Leere,
die wie eine Glasscheibe
zwischen das jetzige Ich
und das entferntere getreten ist.
Das sich zwar mancherorts
und in vieler Hinsicht
offenbarte, aber umso
verborgener bleibt.




(Meine Mutter lacht,
neigt das Gesicht nach hinten
und bewegt kaum
die gewellten Haare
auf dem Rücken.
Der hagere junge Mann,
der versonnen
über sie hinwegschaut,
scheint unentschlossen,
ob er lächeln soll.
An einem lauen Abend,
der sich erahnen läßt.)

Zu den Büschen am Fluß
führte meine Mutter
ihr erster Verehrer,
und ihr eifersüchtiger Bruder
lauerte ihnen auf,
lief ihnen nach,
warf mit Steinen.

Er fiel eines Morgens
bei einer Übung
vor der Abfahrt
an die Front.
Ihr kam, mit dem Echo
des Ruhms, das Wenige zu,
das zwischen den Überresten
gefunden wurde.

Beim Durchblättern ihrer Erinnerungen
habe ich immer an das gedacht,
was war und genausogut
nicht hätte sein können,
an den Zufall, der zu
jeder Geschichte gehört.




(Mein Vater,
sehr jung,
mit seinen Kameraden,
die vor ihm
zu erahnen sind.
Sie machen Witze,
und er antwortet darauf
mit anzüglichen Gesten.)

Zwischen Akten des alten
und des neuen Regimes,
in einem Büro
für den Wiederaufbau,
begegnete er dem Mädchen,
das meine Mutter
damals noch war.
Und es begann die Geschichte,
die mich betrifft.

Auch er war jung
und lernte die Wechselfälle
und die Rollen der Liebe kennen.
Und doch halten wir uns
an ein stummes Bündnis
und tun, als wüßten wir nicht,
daß der eine versuchen wird,
was der andere
längst schon gemacht hat.




Gestalten und Gegenstände,
auf den Spuren des Konkreten,
zeigen die andere Seite
der gespaltenen,
dahinschwindenden,
ausgefransten Gegenwart:
die der geordneten Rede,
des logischen Teils
eines ungeheuer Großen,
Spiegel oder Abbild
eines neu begründeten, erfahrbaren,
innewohnenden Wertes...
Sogar aus dem Abgrund herauf
das Alphabet der Sinnlosigkeit.




(Hemd
und Krawatte
unter einem Jackett.
Die Hände
hinter dem Rücken,
an die Mauer
der Terrasse gelehnt.
Etwas unschlüssig
der Gesichtsausdruck,
zwischen Zufriedenheit
und Murren.
Auch das Jahr
ist angegeben: 1957.)

Als ich mich damals
auf diesem Photo sah,
fragte ich mich nicht,
was sein würde.
Ich war sicher, ich würde
mich auch später noch
so sehen können,
wie auch immer die Dinge
sich entwickeln mochten.

Das Eigenartige ist,
ich fühlte mich gar nicht,
als sei ich wirklich da,
sondern wie schon vergangen.
Wie von Mal zu Mal
in jener Pose
vor der Mauer
festgehalten.
Von mir selber entfernt
und teilweise ausgeschlossen
von jeder möglichen Zukunft.





(Meine Schwester,
wenige Monate alt,
in einen Kittel gehüllt,
der sie einengt.
Ich halte sie unschlüssig
an einem Finger.
Wie verloren.
Dieselben Ohren,
Augen und Nase und Mund
sind die gleichen.
Ich bin fünf Jahre alt.)

Dann schlägt die Stunde,
vor der man sich nicht einmal
fürchtet.
Zusammengewesen sein,
Entdeckungen und Spiele
in den gleichen Kleidern...
und sich dann aus den Augen
verlieren können.

Sich selten treffen
und sich nichts mehr
zu sagen haben.
Diesseits und jenseits
einer Mauer,
vielleicht gar darauf.
Beide gefangen
in einer Rolle, dem Teil
eines Lebens, das zuerst
ein gemeinsames war
und jetzt von wer weiß welchen
Ereignissen getrennt worden ist.

Das Dunkle der Linien,
die von einem Punkt
auf den Karten aus
ins Unendliche
auseinanderlaufen.



(Größer
und ferner kommt
mein Bild
auf mich zu,
aus dem Spiegel
eines alten Schranks,
dessen Tür sich
ganz leise öffnet.
Eine Hand
ausgestreckt,
vielleicht in Abwehr,
die andere, am Unterhemd,
im Begriff, uns das Gesicht
zu verdecken.)

Ich blieb mir unbekannt
im großen und ganzen
vor diesem Porträt
und dem Umriß,
der sich dort spiegelte.
Durch das Ebenbild
abgelenkt von mir selber,
weil ich mich plötzlich
viel genauer sah,
verloren in der Geschlossenheit
der Punkte des Gegenübers.

Auch heute noch,
begegne ich mir getrennt von dem,
der ich in meinen Gedanken bin,
seh ich mich nicht,
weder jung noch alt,
ob gutaussehend oder nicht.
Ich bin mir versperrt
oder verschwinde
fast ganz vor mir.





(Meine Mutter,
den Kopf
nach hinten werfend
über seidener Bluse,
lächelnd.
Mit einem schwarzen Hut.
Ein luftiges Kleid
aus Phantasiestoff.
Eine Hand
an der Kehle.
Voller Leben,
glühend.
Bald zwanzig Jahre alt.)

Doch ich erkenne sie nicht.
Ich schaue sie an
und sehe sie nicht: diese Art
ist mir nicht vertraut.
Wie wenn ich
in ihrer Handtasche wühlte,
zwischen Puderdose,
Spiegel und Nagelfeile.

Daß sie lebte
und schon glücklich war...
und ich war noch nicht da,
es gab mich noch nicht,
nicht einmal als Hauch
oder Spur oder Leere.





Die Entdeckung, daß
die vielen winzigen
vereinzelten Stücke
zum selben allgemeinen
System gehören,
dessen Teile
und Beziehungen
sogar einen Sinn
ergeben, in ihrer
völligen Unordnung.



(Hinten die Eltern.
Der Vater stehend,
zufrieden die Hand
der Tochter haltend,
die ihn anschaut
von der Seite her, unter der Krempe
des Strohhuts hervor,
mit einem Auge
zur Linse,
mit der anderen Hand
die Falten des Kleides glättend.
Die Mutter beugt sich herab:
sie hält den Kleinen
mit dem Zeitungspapierhut
und dem Eimerchen,
im Gleichgewicht
auf dem Schaukelpferd.)

Zu ihm gehörten,
zu seinem Rennen
Tag für Tag,
Geschäft und Haus
und Familie.
"Für die Kinder,
Giovanna...".

Und doch hat ihn
das Schicksal schon
an der Schulter gepackt,
das Urteil ist
endgültig gefällt.
Nie der Gedanke, falls er
je Zeit dafür hatte,
daß die Entfernung
sich verringert und täuscht
auf dem Weg vor ihm.

Zugrundegegangen
an Darmkrebs: er,
sie: ein Jahr später
gestorben,
ein Hirntumor.
Der Jüngste hat immer mehr
den Verstand verloren,
und die Tochter müht sich ab,
die Löcher zu stopfen,
Buch zu führen,
was übrigbleibt,
um die Krankheit
des Bruders zu heilen,
sie zahlt ihm zweimal,
zu ihrem Schaden
und aus Arglosigkeit,
sein Erbe aus.




(Ganz gesammelt,
die Hände gefaltet
über der Nase,
auf den Stufen kniend
beim Hersagen der Gebete.
Mit den Augen jedoch
woanders, abgelenkt
von seinem Tun durch
den Gedanken ans Porträt.)

Von meiner Mutter
zufällig entdeckt,
auf dem Bett liegend,
die Hosentaschen voll
mit nackten Frauen,
reizenden Gestalten,
aus der Zeitung geschnitten.

Finstere Strafen
wurden angedroht,
Tod und Ketten.
Trotz aller Angst
jedoch hineingezogen,
angelockt
von der Logik, der zufolge
die schönen Dinge
wehtun müssen.

Er steigt hinab und hinauf,
er stürzt sich ins Leere
und taugt
zu nichts...



(Mit dunklem
englischem Schnurrbart
posiert er
in Reiteruniform.
Selbstsicher
aber zerstreut,
auf die Hand gestützt
zwischen Säule
und Wand.)

Der Großvater lehnte es ab,
Mitglied der Partei
zu werden, und sie kamen nachts,
um ihn zu verprügeln.
Meine Mutter wurde davon
sehr krank.
Es blieb ihm nichts übrig
als fortzuziehen,
weil sie ihn nicht länger
dableiben ließen.

Von da ab konnte er
nur eben überleben.
Er hatte schon begriffen,
daß sich nichts oder sehr wenig
für ihn geändert hatte.
Doch nie wäre es ihm eingefallen,
sich seiner Vergangenheit
zu rühmen.

Er war ein Held
einer verflossenen Zeit,
wegen seiner Vorstellung
von Freiheit wurde er
beleidigt und dann verraten.
Er konnte nicht lesen, aber sonntags
kaufte er die Unità.





(Das kleine Bündel,
zwischen Bändern und Schleifen
zurückgelassen,
im Körbchen, gehüllt
in weiße Blüten.
Darunter, zusammen mit den Daten,
gedruckt der neunsilbige Vers:
"Vom Leben sollt'
er nichts erfahren.")

Er trieb dahin
in der Wasserblase,
erlitt Schiffbruch.
Keine eigene Gedanken trug er,
sondern Freuden und Ängste
anderer.

Den Fisch eines winzigen Meeres
zog man aus dem Gefäß,
man entriß ihn
dem Schutz des Dunkels
und meldete ihn dem Gesetz,
wenn auch nur für wenige Stunden,
trug ihn ein auf der Liste
der gewesenen Menschen.

Gewesen war nur
die Anordnung von Aufgaben,
die nicht gelangen. Manche
wurden begonnen,
doch nie beendet.





... ein Zeichen ist
das Datum, nicht jedoch
Erinnerung oder Sehnsucht
nach dem, was war.
Ob geliebt oder nicht,
jedenfalls unbekannt.
Völlig verloren,
versunken
ins Zuendegehen,
bei diesem
Festgehaltensein
vor dem Sterben.



  Paolo Ruffilli Mail: ruffillipoetry@gmail.com